30 Jahre Literaturkreis der Deutschen aus Russland
Interview mit Agnes Gossen und Artur Böpple

Der Literaturkreis der Deutschen aus Russland wurde 1995, vor genau 30 Jahren, gegründet. Literatur als wichtiger, untrennbarer Teil der russlanddeutschen Kulturgeschichte sollte als Brücke zur Verständigung dienen und den russlanddeutschen Autoren bei der Neuorientierung oder auch beim Neustart im Land der Vorfahren helfen. Wie das gelungen ist und wie die Zukunft des Vereins aussehen könnte, darüber spricht die Publizistin Nina Paulsen mit Agnes Gossen, die zu den Gründungsmitgliedern gehörte und den Literaturkreis zwölf Jahre lang mit viel Herz und Hingabe leitete, und Artur Böpple, dem heutigen Vorsitzenden des Literaturkreises, der auf bewährte Traditionen setzt und neue Wege wagt.


Nina Paulsen (N.P.): Bis Mitte der 1990er Jahre war die russlanddeutsche (ehemals „sowjetdeutsche“) Literatur in Russland und Kasachstan im freien Fall und so gut wie nicht mehr existent – sowohl die Leser als auch die meisten deutsch schreibenden Autoren waren in Deutschland. Der 1995 gegründete Literaturkreis der Deutschen aus Russland sollte die „ausgewanderte“ russlanddeutsche Literatur auffangen und nicht zuletzt zu neuem Leben erwecken. Sind diese Ideen und Hoffnungen, in der Rückschau und allgemein gesehen, aufgegangen? Wie hat sich die russlanddeutsche Literaturszene in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Wie hat der Literaturkreis dazu beigetragen? Was ist die Gesamtbilanz der Aktivitäten des Literaturkreises und dessen Mitglieder in 30 Jahren?
Agnes Gossen (A.G.): Anfang der 1990er Jahre waren einige deutsche Autoren aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland ausgesiedelt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis alte und neue Kontakte zwischen diesen Autoren entstehen würden.
Im Rahmen eines Bonner Integrationsprojektes für Aussiedler lernte ich die Schriftsteller Johann Bär und Martin Thielmann kennen. Das Projekt war zwar nach zwei Jahren zu Ende, aber wir trafen uns weiter im engen Kreis. Dann begann Nelli Kossko die Zeitung „Wostotschnyj express“ (dt. „Ost-Express“) herauszugeben und als deren Chefredakteurin nach neuen Autoren zu suchen. Durch diese Zeitung fanden bald einige junge Dichter und Liedermacher zu unserer Bonner Autorengruppe.
Mehrere ältere Schriftsteller aus der Nachkriegsgeneration hatte ich vorher bei zwei Autorenseminaren der LmDR kennengelernt und nach Bonn zu Lesungen in der Internationalen Begegnungsstätte eingeladen. Viktor Heinz, Nora Pfeffer, Wendelin Mangold, Lore Reimer und Waldemar Hermann folgten als Erste unserem Ruf.
Dank Irina Brinkmann, der damaligen Referentin des St.-Hedwigs-Hauses in Oerlinghausen, organisierten wir dort 1993 ein Wochenendseminar und sprachen das erste Mal über die Notwendigkeit eines Vereins, beschlossen aber, uns erst gründlich über bürokratische Hürden zu informieren.
Arthur Böpple (A.B.): Ich bin ja erst um 2010 dazugestoßen, deshalb kann ich nur über die Entwicklung der Szene in den beiden letzten Jahrzehnten urteilen. Was feststeht, ist: Der Literaturkreis der Deutschen aus Russland wurde vielleicht nicht für alle Autorinnen und Autoren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zur „literarischen“ Heimat, dennoch dank den regelmäßig erscheinenden Jahrbüchern (Almanachen) entstand eine gewisse Plattform für die Publikation von Texten nicht ausschließlich derjenigen Literaten, die offiziell dem Literaturkreis angehörten. Selbst wenn man sich persönlich nicht kannte, las man die Texte von Kolleginnen und Kollegen und hatte so eine Vorstellung voneinander.
Die „russlanddeutsche Literaturszene“ hat sich vor allem in den letzten 10 bis 15 Jahren gravierend verändert. Die Stimmen der älteren Generation, die bereits in der Sowjetunion deutsch geschrieben haben, sind beinahe verstummt, das ist leider der natürliche Lauf der Lebens. Die mittlere Generation, zu der ich mich zähle, hat viele neue Namen hervorgebracht, die teilweise in bekannten deutschen Verlagen ihre Bücher veröffentlichen und sich trauen, mit bundesdeutschen Literaten in einen Dialog auf Augenhöhe zu treten.
In den letzten Jahren beobachte ich die Tendenz, dass sogar Autorinnen und Autoren, die in den 80er oder 90er-Jahren hierzulande geboren bzw. aufgewachsen sind, den Kontakt zu uns suchen, am neuen Nora-Pfeffer-Literaturwettbewerb des BKDR und Literaturkreises teilnehmen und in unseren Jahrbüchern ihre ersten Texte veröffentlichen.
Es ist selbstverständlich, dass die hier in Deutschland sozialisierte Generation mit einem anderen Selbstbewusstsein mit der Sprache umgeht, eine Tatsache, die uns alle optimistisch stimmen sollte. Es sind oft Menschen, die auf der Suche nach den Wurzeln ihrer eigenen Familien sind und ihre eigene Identität hinterfragen. Paradoxerweise beherrschen einige von ihnen überhaupt kein Russisch mehr, das erschwert zuweilen den Austausch und die Kommunikation zwischen der älteren und der jungen Generation von Schreibenden.





N.P.: Liebe Agnes, du gehörst zu den Gründungsmitgliedern und hast den Verein über ein Jahrzehnt geleitet. Wie kam es zu der Gründung des Literaturkreises? Wer gehörte zu den Mitbegründern? Wer stand an der Wiege des Literaturkreises? Welche Ziele und Aufgaben standen zu deiner Zeit als Vorsitzende im Vordergrund? Welche Stolpersteine hat es gegeben? An welche Höhepunkte denkst du besonders gern zurück?
A.G.: Am 14. Oktober 1995, nach einer Lesung in Bonn mit vielen Gästen, wurde nach einer Autorensitzung beschlossen, den Literaturkreis der Deutschen aus Russland zu gründen. Damals waren es 14 Mitglieder.
Zum ersten Vorstand gehörten ich als Vorsitzende, Nelli Kossko als stellvertretende Vorsitzende, Johann Bär als Kassenwart und Dimitri German als Schriftführer, zum Redaktionsteam Viktor Heinz, Wendelin Mangold, Waldemar Hermann, Lore Reimer und ich.
Als „Mädchen für alles“ sammelte ich die Manuskripte, tippte sie teilweise noch selbst aus postalischen, darunter sogar handschriftlichen Einsendungen ab. Die Texte leitete ich an die Redaktionsmitglieder weiter und las als Letzte die Korrekturen, die anschließend noch einmal zur Freigabe an die Autoren geschickt wurden und danach zum Verleger kamen.
Es war ein Versuch, das kulturelle Vakuum für die russlanddeutschen Schreibenden zu füllen, Gleichgesinnte zu finden und ihnen die Integration in Deutschland zu erleichtern.
Wir hatten keinerlei finanzielle Unterstützung, nur viel Enthusiasmus und den Willen, voneinander zu lernen, über geschriebene Werke zu diskutieren, Lesungen zu organisieren, Informationen auszutauschen und gemeinsam Verlage für Veröffentlichungen zu finden.
Für den besseren Austausch organisierten wir in Bonn ein Literaturcafé, in das wir jeden Monat wechselnde Autoren einluden, Lesungen durchzuführen, und wo wir Musiker auftreten ließen. Diese Treffen waren beliebt und gut besucht, sowohl von Aussiedlern als auch von gebürtigen Bonnern.
Diese freundschaftliche Atmosphäre unserer Treffen vermisse ich jetzt manchmal sehr. Leider sind viele unserer besten Autoren der Nachkriegsgeneration schon im Jenseits, die damals 20-jährigen Literaten kommen seltener zu den Seminaren. Natürlich gibt es unter den jungen Autoren von heute auch erfolgreiche mit eigenen Büchern, aber vieles ist anders geworden.
In meinen zwölf Jahren als Vorsitzende habe ich etwa 300 Veranstaltungen organisiert und bin „Geburtshelferin“ bei vielen Publikationen gewesen.
Begonnen hatte der Literaturkreis mit einem Literaturkalender von 70 Seiten (Jahrgänge 1997–2000, 2006, 2007), den Johann Keib und Rudolf Bender ehrenamtlich gestalteten. Inzwischen geben wir alljährlich unseren Almanach heraus, auf Deutsch und auf Russisch.
Wir hatten zahlreiche Lesungen in ganz Deutschland, aber am schönsten waren unsere drei Lesungen auf der Buchmesse in Leipzig und die Einladung zum Sommerfest bei Bundespräsident Horst Köhler ins Schloss Bellevue im Juli 2007, kurz vor meinem Ausscheiden als Vorsitzende. Ich habe diese Einladung als große Ehre nicht nur für mich persönlich, sondern für unseren Literaturkreis und für alle unsere Autoren gesehen, die sich bemühen, unserer verschwiegenen Volksgruppe eine Stimme zu verleihen.
Ich denke, dass ich in den zwölf Jahren dazu beigetragen habe, dass der Literaturkreis seither auf eigenen Beinen steht. Wir haben in diesen Jahren sechs Orts- und Regionalgruppen gegründet, die von engagierten Autoren geleitet wurden. Im Jahr 2007 waren insgesamt 96 Mitglieder im Verein aktiv. Der Literaturkreis hat in all den Jahren über 150 Publikationen gefördert, Literaturkalender, deutsch- und russischsprachige Almanache und Monographien herausgegeben. Dadurch wurde der Kreis unserer Freunde, Partner und Leser immer größer.
Uns war aber bewusst, dass dies eigentlich nur die ersten Schritte der russlanddeutschen Literatur auf dem Weg zum riesigen deutschsprachigen Büchermarkt sind. Weil die Auflagen unserer Bücher gerade in der Anfangszeit nicht allzu hoch waren, manchmal waren es nur 300 Exemplare, sind sie heute oft nur noch in ausgewählten Häusern zu finden, etwa in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, im Haus des Deutschen Ostens in München, in der Bundesgeschäftsstelle der LmDR in Stuttgart sowie in einigen Vereinsarchiven.
Wichtiges Ziel des Literaturkreises war und bleibt unsere Integration in Deutschland sowie die Förderung junger Talente. Dafür wurde der Literaturkreis 2014 mit dem Russlanddeutschen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
Vielen unserer jungen Autoren stand zunächst die russische Primärsozialisation im Wege, wenn sie in den deutschsprachigen Literaturbetrieb einsteigen wollten. Damit sie sich dem deutschen Publikum präsentieren konnten, schufen Johann Warkentin und Viktor Heinz, zwei der bedeutendsten Autoren der alten Garde, ein besonderes Angebot, das Seminar „Übersetz dich selbst“. Das Resultat dieser und weiterer Nachdichtungen konnten wir 1999 im Moskauer Verlag Gotika als zweisprachiges Büchlein „Spiegelbilder“ herausgeben, außerdem beim Literaturkreis im selben Jahr die Broschüre „Lieder von jungen russlanddeutschen Autoren“.
N.P.: Lieber Artur, du hast den Verein als Vorsitzender im Januar 2014 übernommen. Vorher waren unter anderem Johann Keib (2008), Georg Gaab (2008-2010) und Heinrich Dick (2010-2013) am Ruder. Wie bewertest du die Stärken und Schwächen dieser Jahre. Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen hattest du zu überwinden? Haben sich die anfänglichen Ziele und Aufgaben des Literaturkreises gewandelt? Wie steht der Verein heute da? Welche Erfolge aus deiner Zeit als Vorsitzender sind dir besonders wichtig?
A.B.: Als Stärke fasse ich die Tatsache auf, dass der Verein sich aus den unsicheren Jahren nach und nach gerettet hat und zu einer gewissen Stabilität gefunden hat. Als ich zum ersten Mal etwa 2010 ein Treffen des Literaturkreises besuchte, hatte ich den Eindruck, dass der Verein überwiegend aus russischschreibenden Autorinnen und Autoren besteht, und fragte mich, ob ich da überhaupt richtig bin. In der deutschschreibenden Gruppe saßen im besagten Seminar gerade mal fünf bis sechs Leute, die auch nicht mehr die jüngsten waren…
Ja, die damalige Situation kann man als Umbruch oder subjektiv als „Schwäche“ bezeichnen. Denn für mich lag es auf der Hand: Wenn der Verein keinen aktiven deutschsprachigen Kern bekommt, wird er hierzulande nicht überleben. Zumindest hätte so ein Verein nur eine geringe bis gar keine Chance gehabt, von bundesdeutschen Literaturvereinigungen und Kultur- und Förderinstitutionen ernstgenommen zu werden, und ebenfalls keine Möglichkeit gehabt, sich öffentlichkeitswirksam und professionell zu präsentieren.
Deshalb sah ich meine allererste Aufgabe darin, einerseits die ältere Generation von Schreibenden zu reaktivieren und zugleich nach neuen Strategien zu suchen, die den Verein sowie unsere Sammelbände für die junge Generation attraktiv machten. Ich denke, das ist uns relativ gut gelungen, und das ist ganz klar nicht nur mein Verdienst!
In unseren Almanachen bzw. Anthologien haben indessen viele etablierte und zugleich bekannte Autorinnen und Autoren veröffentlicht, wie z. B. Eleonora Hummel, Elvira Zeißler, Katharina Martin-Virolainen, Andreas A. Peters, Ira Peter, Artur Weigandt, Melitta L. Roth und viele andere.
Heute sind die Ziele nach wie vor dieselben: Vernetzung, Vermittlung, Popularisierung, Suche nach neuen Talenten und ihre Förderung. Je nach unseren Möglichkeiten natürlich, immerhin arbeiten wir alle ehrenamtlich.
Nun, was die Höhepunkte betrifft: Einer der ersten war der bereits erwähnte Russlanddeutsche Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg, bald darauf gelang es mir, die Redaktion der Literaturzeitschrift „RHEIN!“ zu überzeugen, eine komplette Ausgabe unserer Literatur zu widmen (Nr. 13), und selbstverständlich sind wir immer wieder dankbar, wenn wir es mit Hilfe verschiedener Partnerorganisationen auf die Leipziger oder Frankfurter Buchmesse schaffen, um dort unsere aktuellen Autorinnen und Autoren bzw. deren frisch erschienenen Bücher zu präsentieren und mit dem interessierten Publikum ins Gespräch zu kommen.

Artur Böpple mit Melitta L. Roth (Mitte) und Ira Peter bei einer Lesung auf der Leipziger Buchmesse 2023.
N.P.: Von Anfang an hat man viel Wert auf die öffentliche Präsenz der russlanddeutschen Literatur durch Almanache bzw. Sammelbände und andere Publikationen gelegt. Wie haben sich die Almanache im Laufe von drei Jahrzehnten verändert?
A.G.: Bemerkenswert ist, dass die Liebe zur Muttersprache und zur Wahrheit immer mehr unserer Landsleute dazu bringt, das Erlebte auf Papier festzuhalten. Da es wahrscheinlich auch für unsere Nachkommen interessant sein wird, mehr aus dem Leben ihrer Vorfahren im Russland des 20. Jahrhunderts und von ihrem „Exodus“ nach Deutschland ab dem Ende des 20. Jahrhunderts zu erfahren, werden die Aufzeichnungen der Zeitzeugen später zweifellos von großer Bedeutung sein.
Die Erinnerungsliteratur unserer älteren Autoren ist voller Details, die man sich nicht ausdenken kann, sondern einfach erlebt haben muss. Deshalb sind sie eine unschätzbare Quelle für die Romane der nachwachsenden Autorengeneration. Schon ihre bisher veröffentlichten Erzählungen, Gedichte und Romane sowie die Literaturkritik dürften für heutige und künftige Leser von großem Interesse sein.
Mit den Jahren wurden unsere Nachwuchsautoren immer professioneller. Sie versuchten, nicht nur unsere Erfahrungen hier in Erzählungen und Gedichten kritisch zu verarbeiten, sondern auch Probleme zu behandeln, mit denen unsere Landsleute in der neuen Heimat konfrontiert sind. Dabei gibt es immer mehr Geschichten jüngerer Autoren, die primär vom Leben in der Bundesrepublik geprägt sind.
A.B.: Mir war es von Anfang an wichtig, dass Autorinnen und Autoren bei einer Veröffentlichung in unseren Almanachen keinerlei Kosten tragen, weder direkt noch indirekt über die Abnahme einer großen Zahl an gedruckten Büchern. Ich hatte ja bereits vor der Übernahme des Vorsitzes einige Publikationen in bundesdeutschen Literaturzeitschriften bzw. Anthologien und war im Bilde, wie die Branche hier funktioniert.
Aus eigener Erfahrung wusste ich auch, dass eine Zeitschrift oder Anthologie für einen talentierten Autor sofort an Attraktivität verliert, sobald ihm von der Redaktion mitgeteilt wird, dass für eine Veröffentlichung in dem besagten Medium irgendein Obolus zu leisten ist. So gewinnt man keine erfahrenen und versierten Autoren, schon gar nicht solche, deren Bücher bereits in überregionalen Medien besprochen wurden.
Ziel war es, so schnell wie möglich einen Verlag oder Sponsoren zu finden, die unsere Bücher vorfinanzieren und die Abnahme einer bestimmten Bücheranzahl nicht von vornherein zur Bedingung für eine Publikation machten.
Wir hatten 2014 in der Tat mit dem Anthea Verlag aus Berlin sehr viel Glück. Der leider bereits verstorbene Verleger Detlef W. Stein erklärte sich bereit, in uns zu investieren, ermöglichte uns sogar die Teilnahme an der Leipziger Buchmesse und sorgte dafür, dass wir unseren Almanach auf dieser renommierten Bühne regelmäßig präsentieren konnten. Das bedeutete für unsere Jahrbücher einen enormen Imagegewinn.
Seit vielen Jahren kooperieren wir bei Veröffentlichungen erfolgreich mit dem BKDR Verlag bzw. dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland in Nürnberg und sind sehr dankbar für diese Möglichkeit.
So viel zur konzeptionellen Basis. Was den Inhalt sowie die Qualität unserer letzten Jahrbücher betrifft, so vermag ich selbst darüber nur subjektiv zu urteilen. Ich möchte es deshalb dem Leser überlassen.
N.P.: Themen wie Fremdsein, Sich-Fremdfühlen bzw. Heimatverlust und Heimatsuche dominieren nach wie vor in den Werken von Autoren mit russlanddeutschen Wurzeln. Dafür sprechen auch die Titel der Almanache: „Fremde Heimat Deutschland?“ (2014), „Das (hoch-)gelobte Land“ (2015/16), „Und zur Nähe wird die Ferne“ (2017/18), „ZwischenHeimaten“ (2019), „Fremd unter Seinesgleichen“ (2020), „Im Wandel des WIRs“ (2021), „Hier war ich, dort bin ich…“ (2022), „Stimmen aus dem Niemandsland“ (2023/24). Können zugewanderte Autoren, wie es die Russlanddeutschen sind, neue Blickwinkel in die Problematik einbringen? Wie schlägt es sich in den Texten russlanddeutscher und einheimischer Autoren nieder?
A.G.: Es gibt durchaus Beispiele gelungener Bücher russlanddeutscher Autoren mit einem besonderen Blickwinkel, etwa die Romane von Viktor Heinz, Anatoli Steiger, Andreas Peters, Lena Klassen, Eleonora Hummel, Elvira Zeißler, Artur Rosenstern u.a., in denen die Handlung teilweise in der neuen Heimat spielt.
Von den bundesdeutschen Autoren kam der Roman „Ritas Leute“ von Ulla Lachauer über mehrere Generationen einer russlanddeutschen Familie (2015, Rowohlt Verlag) mit sieben Neuauflagen gut an. Er wurde von der Autorin sehr professionell mit Unterstützung verschiedener Stiftungen vermarktet.
A.B.: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir bzw. die zugewanderten Autorinnen und Autoren eine neue Sicht auf dieses Themenspektrum aufzeigen können. Uns geht es ja nicht nur um Übersiedlung von einem ins andere Land oder von einer in die andere Stadt, sondern einerseits um den tragischen, unfreiwilligen Verlust von Heimat(en) unserer Vorfahren, Großeltern und Eltern, also um Ereignisse, die bis heute spürbar nachwirken; andererseits um den Verlust von gewohnten Traditionen und kulturell-geistigen Räumen, die uns seit unserer Kindheit an heilig geworden sind und die wir versuchen, bewusst oder unbewusst in eine uns völlig fremde Gegenwart zu integrieren.
Auch können zugewanderte Schreibende unbestritten ihre neue Heimat und die hier seit vielen Generation lebenden Menschen und deren Alltag aus völlig anderen Winkeln beleuchten und diese Welt für die Einheimischen in einem ungewohnten Licht erscheinen lassen. Das würde ich als Zugewinn verstehen.
Und selbstverständlich bewegt diese Thematik einheimische Autorinnen und Autoren nicht minder. Entweder mussten ihre Großeltern aus Ostpreußen, Schlesien oder Böhmen etc. fliehen, oder sie zogen von Ostdeutschland nach Westdeutschland (oder umgekehrt), von einer in eine andere Stadt. Auch das kann Heimatverlust bedeuten, Heimweh oder verstörende Fremdheitsgefühle auslösen bzw. sogar in bestimmten Lebensbereichen zu Diskriminierungen primär aufgrund der Herkunft führen.
All das sind emotionale Erfahrungen, über die wir miteinander ins Gespräch kommen können. Das verbindende Element überrascht mich immer aus Neue in den uns zugesandten Texten. Deshalb sind unsere Jahrbücher grundsätzlich für alle Autorinnen und Autoren offen, unabhängig von Religion, Herkunft, Geschlecht, Alter etc.

Robert Burau
N.P.: In den 2000er Jahren wurde viel Wert auf die Zusammenarbeit mit Verlagen gelegt, vor allem mit dem Zweck der Verbreitung und Popularisierung der Literatur der Russlanddeutschen. Wie hat das angefangen und sich weiterentwickelt? Was sind die heutigen Prioritäten diesbezüglich?
A.G.: Es ist allgemein bekannt, wie schwierig es für unsere Autoren ist, ihre Publikationen in deutschen Verlagen zu veröffentlichen. Deshalb war für uns anfangs der russlanddeutsche Verleger, der hauptberufliche Zahnarzt Robert Burau ein absoluter Glücksfall. In seinem BMV Verlag Robert Burau sind die meisten Bücher unserer Autoren erschienen; von 2000 bis 2020 waren es insgesamt 99, 74 auf Deutsch, 14 auf Russisch und 11 zweisprachig auf Deutsch und Russisch.
Die qualitativ hochwertigen Bücher seines Verlages wurden mit viel Liebe gemacht. Als regelmäßiger Gast unseren Seminaren erklärte Robert Burau einmal: „Es ist wie mit dem Essen – das Auge isst mit. Ich möchte, dass man die Bücher genießt, vom Inhalt her, aber auch optisch gesehen.“
Ein weiterer langjähriger Partner des Literaturkreises war der Geest-Verlag, der von uns sowie von einzelnen unserer Autoren insgesamt 22 Bücher veröffentlichte.
Die Zusammenarbeit begann 2003 auf der Buchmesse Migration im Haus der Geschichte in Bonn, wo ich den seit 1999 aktiven Verleger Alfred Büngen kennenlernte. Wir tauschten Informationen und Kontaktdaten aus. Ich bot ihm einige unserer Manuskripte an, darunter die von mir gesammelten humoristischen Erzählungen unserer Autoren. Ein Jahr später veröffentlichte er sie als Anthologien „Worüber man sich lustig macht“ (2004) und „Kindheit in Russland“ (2005). Dank der groß angelegten Werbekampagne war die Auflage schnell vergriffen und es erschienen kurze Buchbesprechungen in 80 bundesdeutschen Zeitungen und Zeitschriften.
Zu unseren Kooperationspartnern gehört auch der 2002 von unserem Landsmann Waldemar Weber gegründete Waldemar Weber Verlag.
A.B.: Ich habe schon oft betont, dass wir dringend einen eigenen, finanziell gut aufgestellten, reinen Literaturverlag brauchen, um vor allem jungen Talenten eine Publikationsplattform zu bieten. Mit ostbooks hatte ich versucht, diese Idee zu verwirklichen, doch gute Bücher im Nebenberuf zu machen und diese erfolgreich zu vermarkten, hat sich leider als utopisch herausgestellt. Diese Idee sucht schon lange nach einem soliden Träger, der mit Überzeugung und felsenfesten Glauben an unser Potenzial voll und ganz dahinterstehen würde.

N.P.: Seminare und Tagungen. nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit der LmDR, waren von Anfang an vor allem als Schulungen gedacht, aber auch als Maßnahmen zur Entdeckung neuer Namen und dem Artikulieren von Zielen und Aufgaben der russlanddeutschen Literatur hierzulande. Haben sich diese Maßnahmen bewährt? Wie sieht es heute damit aus?
A.G.: Zu den Seminaren haben wir regelmäßig Autoren, Literaturkritiker und Verleger eingeladen. Bei uns referierten unter anderem die Germanisten und Verleger Thomas Frahm und Waldemar Weber, der Verleger Alfred Büngen, der ostdeutsche Schriftsteller Friedrich Engelbert, der rumäniendeutsche Autor und Literaturkritiker Ingmar Brantsch sowie diverse Vertreter des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache in Mannheim.
Diese Kontakte waren und sind für alle Beteiligten gewinnbringend, denn es kommen immer wieder neue begabte Autoren, um ihre Texte vorzustellen. Wenn aus den besprochenen Texten beizeiten Bücher entstehen, bereitet uns das sehr große Freude! Nur die Jahre der COVID-Pandemie machten uns einen Strich durch die Rechnung. Immerhin schrieben viele von uns in dieser einsamen Zeit mehr und begannen, sich angeregt über das Internet auszutauschen. Hinzu kamen Online-Veranstaltungen und -Bücherpräsentationen unserer Autoren.
Ich bin überzeugt, dass die Lesungen sehr nützlich für unsere Autoren waren; sie erweiterten den Freundeskreis der russlanddeutschen Literatur, auch durch Buchrezensionen von Ingmar Brantsch, Alfred Büngen, Johann Warkentin, Rose Steinmark, Nina Paulsen oder Melitta L. Roth. Unsere Internetseite trug ebenfalls dazu bei.
Aber es waren eigentlich nur Tropfen auf den heißen Stein, einen wirklichen Durchbruch schafften bisher nur wenige russlanddeutsche Autoren.
A.B.: Im gewissen Sinne tragen verschiedene früher durchgeführte Maßnahmen sichtbare Früchte. Aber es müssen ja nicht immer solche „lauten“ Stimmen sein, die gerade im Literaturbetrieb für alle hörbar sind. Man denke nur an viele zu ihren Lebzeiten unbekannte Künstler, die erst lange nach ihrem Ableben von der breiten Öffentlichkeit entdeckt wurden, wie z.B. Franz Kafka, Gustav Mahler oder Vincent van Gogh.
Aber ich möchte realistisch bleiben und erwarte in den nächsten Jahren keinen Nobelpreisträger aus unseren Reihen (obwohl mich gelegentlich amüsante Anrufe unseren Schreibenden erreichten, in denen ich auf recht skurrile Art und Weise und vollen Ernstes gebeten wurde, eines der Bücher des Anrufers dem Nobelpreiskomitee zu empfehlen...). Ziele haben wir im Prinzip dieselben wie früher und verfolgen sie nach unserer Kraft und unseren zeitlichen Kapazitäten.

N.P.: In den ersten Jahren des Literaturkreises hat es mehr Lesungen gegeben – so mein Eindruck. Wie wichtig waren und bleiben diese Aktivitäten?
A.G.: Ich halte die Lesungen, für die ich mich immer wieder eingesetzt und in verschiedenen Regionen Deutschlands durchgeführt habe, bis ca. 16 Lesungen im Jahr, für sehr wichtig. Ich habe auch viele Berichte und Rezensionen zu Neuerscheinungen für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben sowie Interviews mit Autoren durchgeführt. Es gibt auch jetzt ab und zu Lesungen, nur ist der Personenkreis der daran Teilnehmenden aus meiner Sicht viel kleiner geworden.
A.B.: Lesungen sind für jeden Autor wichtig, wir kommen dadurch direkt mit dem Publikum ins Gespräch und erhalten Feedback. Schon beim Vorlesen merken wir an den Reaktionen der Zuhörenden, ob sie sich langweilen oder ganz Ohr folgen. Wir sammeln Erfahrungen im Umgang mit dem Publikum und werden mit jedem Auftritt selbstbewusster und kreativer. Ich bin mittlerweile überzeugt, dass wir für die Qualität der Lesungen viel mehr unternehmen sollten.
Nicht jeder gute Schreibende ist zugleich ein guter Vorleser. Es tut mir manchmal in der Seele weh, wenn ich merke, dass ein sehr starker Text beim Vorlesen seine Wirkung nicht voll entfalten kann, sondern aufgrund Mängeln des Vorlesenden vom Zuhörer nicht verstanden wird.
Deshalb laden wir zu unseren Workshops immer wieder Schauspieler oder professionelle Rezitatoren ein, um das Vortragen von Texten zu üben.
Was die Quantität unserer Lesungen anbelangt, so sage ich immer wieder unseren Mitgliedern: Bitte werdet selbst aktiv und organisiert in euren Orten Lesungen.
Wir sind als Literaturkreis durchaus gewillt, Fördermöglichkeiten zu prüfen und bei den Formalitäten zu helfen, doch ich sehe leider kaum Eigeninitiative, sieht man von einigen wenigen Mitgliedern ab, die Lesungen anbieten und damit Erfolg haben.Der Vorstand des Literaturkreises ist nicht in der Lage, sich auf ehrenamtlicher Basis um Lesungen für rund 70 Vereinsmitglieder zu kümmern.

N.P.: Dass Deutsche aus Russland seit Jahrzehnten in Deutschland leben, ist mittlerweile bekannt, dass auch das Phänomen der „russlanddeutschen“ Literatur dazugehört, scheint aber noch nicht wirklich angekommen zu sein. Woran mag das liegen? Kann der Literaturkreis etwas dafür tun, dass die russlanddeutsche Literatur und unsere Schreibenden bekannter und sichtbarer werden? Welche Aktivitäten könnten es sein?
A.G.: Es fehlt an Sammlungen literaturwissenschaftlicher Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der russlanddeutschen Literatur, an Bibliographien, Quellenangaben mit Hinweisen auf Forschungsarbeiten, Dissertationen sowie Diplom- bzw. Bachelorarbeiten zur russlanddeutschen Literatur.
Ich habe privat eine kleine Sammlung solcher Publikationen angelegt, und wir konnten ja auch zu diesem Thema Festschriften für ältere Mitglieder des Literaturkreises veröffentlichen, allerdings mit kleinen Auflagen. Und vor Kurzem hat das BKDR zwei Bände mit Interviews mit russlanddeutschen Autoren veröffentlicht.
A.B.: Wir haben inzwischen sehr gute Autorinnen und Autoren, die sich nicht zu verstecken brauchen, sie werden ihren Weg gehen und sich peu à peu durchsetzen. Auch ohne den Literaturkreis. Wir könnten sie natürlich auf ihrem Weg unterstützen, wenn sie es wollen.
Konkret versuche ich, frisch erschiene Bücher auf Buchmessen zu präsentieren und nach Möglichkeit, eine Lesebühne, zum Beispiel auf der Leipziger Buchmesse, für unsere Kreativen zu vermitteln. Doch all das ist viel zu wenig, um die Popularität unserer Literatur gravierend zu verbessern.
Auch hier sind unsere Möglichkeiten als Literaturkreis sehr begrenzt. Ich habe versucht, diversen Trägern und Förderern bewusst zu machen, dass dieser Schieflage ganz klar ein strukturelles Problem zugrunde liegt, und möchte es an dieser Stelle noch einmal hervorheben. Beinahe jede mittelgroße Stadt in Deutschland verfügt über ein Literaturhaus bzw. Literaturbüro, das sich professionell um z. B. breit angelegte Literaturfestivals bzw. Feste kümmert, Fortbildungen für Schreibende anbietet, diese über Veröffentlichungsmöglichkeiten berät und Wege aufzeigt, wie ein Manuskript erfolgreich zu einem Verlag kommt, und schließlich, wie daraus ein Buch entsteht, das am Ende in Buchhandlungen ausliegt usw.
Die Interessen unserer Literaten werden in derartigen Häusern für gewöhnlich nicht vertreten. Und solange wir über kein eigenes Literaturbüro bzw. -haus verfügen, das sich quasi „hauptberuflich“ um unsere Belange kümmert und effektive Strategiekonzepte zur Optimierung von Sichtbarkeit entwickelt, werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht viel weiterkommen. Das ist a priori weder ein qualitativ bedingtes Problem noch ein thematisches, wie uns einige kritische Stimmen seit Jahrzehnten weismachen wollen.

N.P.: Die russlanddeutsche Literaturszene hat sich mittlerweile verändert, weil viele Autoren der mittleren und jüngeren Generation in Erscheinung getreten sind, neue Themen, andere Erfahrungen und kreative Ideen mitbringen – die deutsche Gegenwart tritt langsam in die Literatur der Russlanddeutschen ein.
Der Verleger Alfred Büngen wies vor einigen Jahren auf einem Seminar russlanddeutscher Autoren darauf hin, dass „heute die sicherlich berechtigte leidvolle Erinnerungsliteratur der Anfangsjahre des Literaturkreises, als man hier ausdrücken konnte, was man vorher lange nicht ausdrücken durfte, aber auch sprachlich nicht vermochte, im Verlagswesen nicht mehr zu machen sei, da sie keine Käufer mehr findet, weil der Büchermarkt damit eingedeckt ist. Es müsste schon eine große Ausnahme kommen, sollte es doch noch von Interesse sein.“
Andererseits bemerkte Herold Belger (1934–2015): „Die Erinnerungsliteratur ist zweifelsohne nach wie vor berechtigt – das Leid und der Schmerz, die sich in der Volksgruppe jahrzehntelang aufgestaut haben, müssen raus. … Ihren nationalen Schmerz haben die russlanddeutschen Autoren, denke ich, noch nicht völlig ausgeschöpft, nicht zu Ende erzählt.“
Die Frage ist, wie erzählt man das, damit man eine größere Leserschaft erreicht? Zumal auch bei der „mitgebrachten Generation“ das Interesse an der künstlerischen und literarischen Verarbeitung der Vergangenheit noch sehr präsent zu sein scheint. Mit welchen Themen könnte die Literatur der russlanddeutschen Autoren hierzulande noch punkten?
A.G.: Vielleicht sollten wir mehr über die Gegenwart in Deutschland schreiben, über die gelungene Integration, die nicht leicht war. Vor allem gilt die Qualität der Texte. Es zählt vor allem, wie etwas geschrieben ist und in welcher Form. Gut kommen immer humoristische, satirische Texte an, auch gute Theaterstücke.
A.G.: Qualität – ja, und nochmal ja! Da stimme ich Agnes zu. Auch Herold Belger hatte natürlich recht. Es mag schon sein, dass im russischsprachigen Raum nach dem Zerfall der Sowjetunion viel mehr über das tragische Schicksal unserer Bevölkerungsgruppe geschrieben und gelesen wurde. Es stimmt auch, dass im deutschsprachigen Raum vor allem in den 1990er sowie in den 2000er Jahren viele Zeitzeugenberichte bzw. die sogenannte Erinnerungsliteratur produziert, vertrieben und rezipiert wurde.
Doch ganz ehrlich: Wie viele resonanzstarke und literaturästhetisch wertvolle Romane in deutscher Sprache sind bisher von den großen deutschen erlagen zu unserem Themenfeld veröffentlicht worden? Wie viele Menschen kennen hierzulande unser Schicksal?
Fakt ist, dass wir solche Bücher an den Fingern einer Hand abzählen können, geschweige denn Romane, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der Deportation, der Zwangsarbeitslager und der Sondersiedlungen spielen.
Gerade deshalb: Gut gemeinte Ratschläge, von wem sie auch kommen, an unsere Autorinnen und Autoren, sie sollten aufhören, über die Tragik des russlanddeutschen Schicksals, über den „Volksschmerz, zu schreiben, stattdessen endlich in der Gegenwart ankommen und Texte über das Hier und Jetzt produzieren, nehme ich mit Verwunderung wahr.
Selbstverständlich können und wollen wir niemandem vorschreiben, worüber oder wie der- bzw. diejenige schreiben soll. Das hatte der Literaturkreis niemals zum Ziel.
Unlängst haben Autorinnen wie Eleonora Hummel, Irene Langemann oder Ella Zeiß (Elvira Zeißler) mit ihren erfolgreichen und bedeutenden Büchern bewiesen, dass „unser Thema“ noch nicht ausgeschöpft ist und dass viele bundesdeutsche Leserinnen und Leser ihnen mit Interesse und Dankbarkeit begegneten und ihnen dabei mitteilten, dass sie vom Schicksal der Russlanddeutschen rein gar nichts gewusst hätten und froh seien, diese neue Perspektive entdeckt zu haben.
Ich war bei vielen Lesungen mit Eleonora Hummel, Irene Langemann und Melitta L. Roth dabei und kann solche Gespräche mit dem Publikum bezeugen.
Im Übrigen, wenn jemand das Gefühl hat, dass seine mit Humor angereicherten Texte beim Publikum besser ankommen – dann, warum nicht? Man kann ernste Themen durchaus mit leisem Humor anreichern.
N.P.: Deutsch oder auch Russisch? Dieses Dilemma hatte die russlanddeutsche Literatur der Nachkriegszeit bereits in der Sowjetunion; damals wurden die auf Russisch verfassten Werke von Autoren mit russlanddeutschen Wurzeln eher verleugnet. Hier und heute sind sie Realität, auch wenn sie eine stark begrenzte Leserschaft haben. Viele Jahre wurde vom Literaturkreis ein Almanach in russischer Sprache herausgegeben, jetzt ist das Projekt wieder aufgenommen worden. Wo liegt, sprachlich gesehen, aus eurer Sicht die Zukunft der Literatur der Deutschen aus Russland?
A.G.: Das Thema wird ja schon sehr lange diskutiert. Sprachlich gesehen liegt die Zukunft unserer Literatur aus meiner Sicht natürlich in der deutschen Sprache, zumal die dritte und vierte Generationen der Aussiedler die russische Sprache nicht mehr so gut oder überhaupt nicht beherrschen.
A.B.: Ich bin derselben Meinung wie Agnes. Zumindest im deutschsprachigen Raum kann ich mir zurzeit kaum eine Zukunft für russischsprachige Bücher vorstellen. Menschen, die hier aufwachsen, können kaum bis gar kein Russisch. Woher sollen also die Leser kommen.
N.P.: Lieber Artur, in einem Interview vor acht Jahren (VadW 7-8/2016) sagtest du: „Wenn wir das Problem nicht ernst nehmen, wird unsere Literatur in ein paar Jahrzehnten de facto aussterben.“ Bleibst du dabei? Was können aus eurer Sicht der Literaturkreis oder auch andere Institutionen tun, damit die Literatur der Autoren mit russlanddeutschen Wurzeln, nicht ausstirbt?
A.G.: Ich glaube, ich hatte im besagten Interview einige Lösungsvorschläge ansatzweise formuliert. Die eine oder andere Idee haben wir bereits in Kooperation mit den beiden russlanddeutschen Kulturreferaten in Detmold und Nürnberg umgesetzt.
Vor allem aber sind die weitere Etablierung und der Ausbau des Nora-Pfeffer-Literaturwettbewerbs für die jüngere Generation von Schreibenden sehr wichtig. Es ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Einerseits lernen wir auf diese Weise viele neue Talente kennen bzw. können sie nach Möglichkeit fördern und für unsere Themen sensibilisieren, andererseits werden wir nach und nach in der bundesdeutschen Literaturszene sichtbar und hörbar.
Ich bin mir sehr sicher, dass wir in den nächsten Jahrzehnten einige erfolgreiche Newcomer sehen und lesen werden. Auch wenn es einige Historiker nicht gerne hören: Es werden viele gute und lesenswerte Bücher entstehen, die unsere tragische Geschichte sowie das Leben in der Sowjetunion beleuchten. Ich sehe ganz klar einen Aufholbedarf sowie ein Publikum heranwachsen, das uns zuhören wird.
N.P.: Liebe Agnes, lieber Artur, ich bedanke mich ganz herzlich für eure Offenheit und das aufschlussreiche Gespräch.



