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01/03/2019Zum siebten Mal lud die Kreis- und Ortsgruppe Regensburg der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland am 10. November 2018 zu ihrem inzwischen traditionellen Jahreskulturfest ein, das diesmal unter dem Motto „100 Jahre wolgadeutsche Autonomie“ stand. Die Schirmherrschaft über die Kulturveranstaltung im Kolpinghaus Regensburg, die von Viktoria Lunte moderiert wurde, übernahm die Regensburger Bürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer Das Kulturprojekt wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales und dem Kulturreferat der Deutschen aus Russland in Bayern gefördert.
„Einst von der russischen Zarin Katharina II. gerufen und mit Privilegien bedacht, haben die Wolgadeutschen ihre deutschen Mundarten, ihre Kultur, ihre Traditionen und den Glauben der Vorfahren jahrzehntelang aufrechterhalten. Mit der Rückwanderung in das Land der Vorfahren schließt sich der Kreis für viele wolgadeutsche Familien“, begrüßte die Vorsitzende der Kreis- und Ortsgruppe Regensburg, Valentina Wudtke, die zahlreich erschienenen Gäste.
Gertrud Maltz-Schwarzfischer betonte anschließend die Wichtigkeit des Ereignisses, „das uns alle hier zusammenführt“. Angesichts der globalen Migration habe das Thema mit Blick auf die wechselvolle Geschichte der Wolgadeutschen, die „anfänglich mit vielen Hoffnungen und Erwartungen verbunden war, eine große Bedeutung. Es lohnt sich sehr, sich mit der Geschichte und Kultur zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Danke der Landsmannschaft in Regensburg, die zum wiederholten Male Geschichte fassbar macht“, so die Bürgermeisterin.
Peter Aumer, MdB, wandte sich an die Versammelten unter dem Eindruck der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag anlässlich des 9. Novembers, der als „Schicksalstag“ der deutschen Geschichte gilt und den Beginn der ersten deutschen Republik (1918), den Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung (1938) und den Fall der Berliner Mauer (1989) markiert. Er zitierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Worten, die auch das Gedenkdatum „100 Jahre wolgadeutsche Autonomie“ verständlich machen: „Wir alle haben ein tiefes Bedürfnis nach Heimat, Zusammenhalt, Orientierung. Und dafür spielt der Blick auf die eigene Geschichte eine entscheidende Rolle. Jedes Volk sucht Sinn und Verbundenheit in seiner Geschichte.“
Sylvia Stierstorfer, Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Vertriebene und Aussiedler, konnte aus terminlichen Gründen nicht dabei sein. Die Moderatorin Viktoria Lunte verlas ihr Grußwort. „Leider währte diese Autonomie nur kurz, und auch in den 23 Jahren der Autonomie war die Geschichte der Deutschen vom Misstrauen der sowjetischen Herrscher, von Hungersnöten und politischer Verfolgung überschattet… Heute leben die allermeisten Deutschen aus Russland wieder in Deutschland, der Heimat ihrer Vorväter. Gerade wir hier in Bayern profitieren davon, denn die Russlanddeutschen sind dank ihrer Fähigkeiten, ihres Einsatzes und ihres Bekenntnisses zu unserem Land eine große Bereicherung für uns“, äußerte die Aussiedlerbeauftragte ihre Anerkennung.
Ewald Oster, Vorsitzender der Landesgruppe Bayern der LmDR, stellte in seiner Ansprache die Höhepunkte der 1957 gegründeten Landesgruppe heraus, die das Jahr 2018 „historisch“ gemacht haben: die Ernennung einer Beauftragten für Vertriebene und Aussiedler, die Schaffung des Kulturreferats der Deutschen aus Russland in Bayern und die Gründung eines Kulturzentrums in Nürnberg.
Das alles betrachte die Landsmannschaft „als Wertschätzung der vielfältigen Leistungen der Deutschen aus Russland“. Das Motto „Von Hilfesuchenden zu Leistungsträgern“, das die Entwicklung der Russlanddeutschen hierzulande zum Ausdruck bringe, habe sich in den letzten Jahrzehnten bewahrheitet. „Wir prägen dieses Land“, so Oster.
Für viele Wolgadeutsche der älteren Generation, aber auch für ihre Nachkommen, ist die Faszination der Wolgaheimat und der Wolgadeutschen Republik, auch wenn sie dort über Jahre Schreckliches erleben mussten, ungebrochen. Edwin Warkentin, Kulturreferent der Russlanddeutschen am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold, verdeutlichte in seinem pointierten Vortrag die folgenreichen und schicksalhaften historischen Entwicklungen im Wolgagebiet.
1918 wurden, so Warkentin, die Wolgadeutschen durch die Gründung der Arbeitskommune „in einen scheinbar privilegierten Status erhoben… Für Lenin und Stalin war die ‚Wolgadeutsche Republik‘ ein Prestigeprojekt. Sie sollte den Kommunismus mittels Übertragungseffekt ins Deutsche Reich bringen. Doch das Projekt wurde abgebrochen, alle Russlanddeutschen haltlos der Kollaboration mit den Nationalsozialisten beschuldigt und die Wolgarepublik liquidiert… Was 1918 mit verheißungsvollen Versprechungen der bolschewistischen Revolutionsführer begann, war im Nachhinein betrachtet bereits das Ende auf Raten eines fast 200-jährigen wolgadeutschen sowie russlanddeutschen Kulturerbes in Russland.“
Die Schauspieler Maria und Peter Warkentin vom Russland-Deutschen Theater Niederstetten (früher Mitglieder des Deutschen Schauspieltheaters Temirtau/Alma- Ata) griffen die Geschichte der Wolgadeutschen in dem Stück „Das Lied vom Küster Deis“ auf, das in Regensburg zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurde.
Das Theaterstück basiert auf drei bedeutenden Werken wolgadeutscher Autoren, die Maria und Peter Warkentin meisterhaft miteinander verflechten: „Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen-Michel. Ein wolgadeutsches Steppenlied aus dem 18. Jahrhundert“ (um 1861 von Pastor Friedrich Dsirne aufgezeichnet), „Das Lied vom Küster Deis“ (1913 von Pastor David Kufeld als Beitrag zum 150. Jahrestag der Auswanderung von Deutschen an die Wolga verfasst) und „Der letzte Grabhügel“ von Victor Klein (Romanauszug, erstmals 1962 auf einem Autorenseminar vorgetragen, erste Veröffentlichung 1988).
Als verbindendes Element dieser drei Abschnitte wolgadeutscher Geschichte spielt eine Holzkiste als Symbol der vielen Wanderwege der Wolgadeutschen auf der Bühne eine zentrale Rolle. Bei allen Wanderungen gehörte das Wertvollste in die Kiste. In der Aufführung von Maria und Peter Warkentin sind es die alten Bücher und Werke, die bis heute das historische Gedächtnis der russlanddeutschen Volksgruppe prägen.
Neben der Holzkiste gehören die berüchtigte „Fufaika“ (Steppjacke aus der Zeit der Zwangsarbeit und noch viele Jahre danach), ein einfacher Tisch mit Hockern, das Plakat „Es lebe die Autonomie“und das Holzkreuz auf dem „Grabhügel“ zur Bühnenausstattung.
Die Geschichte „Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen-Michel“, die eine zentrale Stellung im historischen Gedächtnis der Wolgadeutschen einnimmt, erzählt in schaurigen Bildern von einem Überfall auf Mariental; das Dorf wurde mehrfach von umherziehenden Nomaden überfallen und ausgeplündert. Am 15. August 1776 (Maria Himmelfahrt) war ganz Mariental gerade zur Messe im Gotteshaus versammelt, als der Schreckensruf der Wache kam: „Die Kergiser kommen!“Damit beginnt auch die Aufführung von Maria und Peter Warkentin, die das Publikum auf eine wolgadeutsche Zeitreise mitnehmen.
Als Folge des Überfalls wird Hannmichel zusammen mit anderen Kolonisten auf dem Sklavenmarkt „im Lande der Kirgisen“ verkauft. Seine Verlobte „Schön Ammi“ bleibt ihm die ganze Zeit treu, denn erst nach zwölf Jahren Gefangenschaft darf Hannmichel dank der Hilfe der Tochter seines kirgisischen Herrn in seine Heimat zurückkehren. Seitdem sind „Schön Ammie“ und Hannmichel ein glückliches Paar – die Szene spielen Maria und Peter Warkentin eindrucksvoll nach.
Der Alltag der Wolgadeutschen im Dorf „Neuruslan“ wird humorvoll zugespitzt im „Lied vom Küster Deis“ nachgezeichnet. Im Mittelpunkt steht Deis, ein Mann mit vielen Talenten; er ist Küster, Kantor, Lehrer, Organist, Sekretär, Regent, Archivar, Feldscher, Glockenläuter und Sänger – „himmlisch schön war seine Stimme“. Auf der Bühne erleben die Zuschauer Deis als strengen Schullehrer und treuen Familienvater. Gegen den Überfall der „Kirgisen“ hat Deis die Leute in der Kirche bei Gesang und Gebet versammelt und erzielt damit eine verblüffende Wirkung: Die Angreifer ziehen ab, was zu einem ausgelassenen Freudenfest führt.
Ein Zeitsprung auf der Bühne versetzt die Zuschauer in die Sowjetzeit: Gründung der wolgadeutschen Autonomie, Kollektivierung, Deportation und Auflösung der Wolgarepublik – eine Entwicklung, die das Ende des Deutschtums an der Wolga einleitet. Als Vorlage dient das Werk von Victor Klein, „Der letzte Grabhügel“. Klein gehörte zu den ersten, die sich mit dem Thema Deportation literarisch auseinandersetzten.
In der Schlussszene wird ein wolgadeutsches Dorf nach dem Erlass vom 28. August 1941 „ausgesiedelt“. Auf dem Weg zur Eisenbahnstation stirbt der alte Andres Kinzel und wird auf dem Hügel in Dorfnähe begraben. Seine Schwiegertochter Gret bringt zur gleichen Zeit ein Kind zur Welt, das zu Ehren des Verstorbenen den Vornamen Andreas bekommt; im ersten russischen Dorf wird er als „Andrej“ eingetragen.
„Der rundbackige Andreas-Andrej wird heranwachsen und dereinst als Mann auch in dem fernen Sibirien alles überwinden und sich somit seines toten Großvaters und seiner wackeren Landsleute würdig erweisen“, ist bei Victor Klein nachzulesen.
Für die berührende Aufführung dankten die Gäste mit stehenden Ovationen. Viel Beifall erntete auch der Chor der Ortsgruppe, „Donauklang“ (Leitung: Hildegard Raff), für die musikalischen Einlagen zu Beginn des Festes.
Zum Schluss der gelungenen Veranstaltung bedankte sich der Kulturreferent Waldemar Eisenbraun bei den Teilnehmern und Gästen des Abends und kündigte Ehrungen an. Am 1. Dezember 2018 zeigten Maria und Peter Warkentin im Amtshaus Oberstetten die Premiere ihres Theaterstücks „Die Kist‘ von der Wolga“ über die Wolgadeutschen. In dem Stück erweiterten sie „Das Lied vom Küster Deis“ um zwei weitere Werke: „Reise-Beschreibung der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen, von Offizier Blathen“ (entstanden 1766-1767) und „Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge’s Leben in Rußland“ (erschienen 1802).
Nina Paulsen