Der Chor der Deutschen aus Russland in Köln:
01/06/2018Aussiedlerwallfahrt in Köln am 21. Oktober 2018:
01/10/2018Viele Mitglieder der Kölner Ortsgruppe unserer Landsmannschaft sind Nachkommen von Wolgadeutschen, einige ältere sind sogar noch an der Wolga geboren. Bei einer Veranstaltung anlässlich des 100. Jahrestages der Wolgadeutschen Autonomie im August 2018 entbrannte deshalb in der Gruppe eine lebhafte Diskussion.
Und zwar ging es um das „Pilgern“ unserer Delegationen nach Moskau mit der untertänigsten Bitte an die Partei, nach dem Rehabilitierungserlass von 1964 nun auch die Wolgarepublik wiederherzustellen.
Ein Mitglied der Ortsgruppe erzählte, dass er das Protokoll des Gesprächs im Kreml von jemandem zugesteckt bekommen habe, was ihm einen KGB-Besuch eingebracht habe. Was ein traumatisierter Russlanddeutscher in jenen Jahren bei einem solchen „Besuch“ empfand, brauchte er nicht zu sagen. Alle nickten verständnisvoll. Zur Sprache kamen auch weitere Ereignisse ähnlicher Art.
Ob es überhaupt irgendwann eine reale Chance für die Wiedergeburt der Wolgarepublik gab? Vielleicht nach dem Zerfall der Sowjetunion? Warum war ein autonomes Territorialgebilde für die Deutschen in der Sowjetunion so wichtig? Viele hatten doch ihre Wurzeln in der Ukraine, dort gab es nie eine Autonomie. Aber auch sie wollten ein anerkanntes Territorium. Sie wollten in der Familie sowjetischer Brudervölker gleichberechtigt sein. Denn nach Stalins Definition war eine Ethnie ohne eigenes Territorium kein Volk.
War das schlimm? Was bedeutete es für die deutschen Sowjetbürger rechtlich? Allerhand Nachteile! Keine eigenen Institutionen, keine Schulen mit muttersprachlichem Unterricht, keine Kultureinrichtungen. Nicht einmal deutsche Volkslieder durfte ein Chor öffentlich singen. So war es auch noch 20 Jahre nach dem Ende des Krieges mit Hitler.
Doch der Opferstatus behagt den Mitgliedern der Kölner Ortsgruppe gar nicht. Sie sind stolz auf ihre Lebensleistung. Viele haben Hochschulbildung, waren in den Betrieben, in denen sie arbeiteten, hoch angesehene Fachleute. Sie konnten erreichen, dass ihre Kinder es weiter brachten als sie selber. Alle redeten durcheinander: gute Erfahrungen, Erfolge, Ungerechtigkeiten. Sie haben Verschiedenes erlebt.
Doch dann ging es um Statistik. Um den Anteil von Akademikern bei nationalen Minderheiten in der Sowjetunion. Aus einer Tabelle des Historikers Dr. Viktor Krieger folgt, dass die Russlanddeutschen zwischen 1939 und 1989 hinsichtlich ihrer Bildung auf den allerletzten Platz katapultiert wurden.
Wie konnte das passieren? Die Diskussion drehte sich im Kreise. Ratlos und gekränkt wurde eine Erklärung nach der anderen verworfen. Ja, der Große Terror. Ja, die Schwerstarbeit hinter Stacheldraht in der Arbeitsarmee. Aber in den 1960er Jahren durften Russlanddeutsche wieder studieren. Die Meldepflicht bei der Kommandantur mit dem Verbot, den zugewiesenen Wohnort zu verlassen, war abgeschafft. Waren die Russlanddeutschen nun durch die Drangsalierungen der vergangenen Jahre so verängstigt, dass sie sich nicht an die Hochschulen in den Städten trauten?
Vera Riffel meldete sich zu Wort. Eine Zeitzeugin, Mathematiklehrerin im Ruhestand. „Ich studierte in Tjumen, und ich war an der einzigen Hochschule des Gebietes die einzige Deutsche“, erklärte sie.
„Im Zuge der Deportation kamen sehr viele Wolgadeutsche in dieses unwirtliche, dünn besiedelte Gebiet“, betonte Vera Riffel weiter. „Doch ihre Kinder wurden nicht zur Schule geschickt, sie mussten arbeiten. Einerseits ging es ums Überleben der Familien, andererseits konnten die Kinder kein Russisch, in ihren Schulen an der Wolga war Unterrichtssprache Deutsch gewesen.
Mit tiefer Dankbarkeit sprach Vera über ihren Vater, der unter schwierigsten Bedingungen bereit war, jedes Opfer für die Ausbildung seiner Kinder zu bringen. Gesundheitlich war er durch Misshandlungen im Jahr 1938 so schwach, dass man ihn für untauglich befunden hatte, als alle deutschen Männer hinter Stacheldraht in die berüchtigte Arbeitsarmee mussten.
Das Dorf an der Wolga, aus welchem Veras Familie kam, hatte viele russische Einwohner, deshalb konnten die Kinder Russisch, was in Sibirien von großem Vorteil war. Der Vater beherrschte außer der russischen Sprache auch Buchführung, weil er in seiner Jugend als ehemaliger Tagelöhner an der Arbeiter- und Bauernfakultät studieren durfte. Nun konnte der Vater in den armen Kolchosen die Buchführung machen, war dadurch ein gefragter Fachmann, bekam als solcher eine kleine Brotration, konnte mit dem Kommandanten abmachen, dass seine älteste Tochter ihre Schulbildung im Nachbardorf fortsetzen durfte, erst fünf, dann 15 Kilometer entfernt.
Nach dem Abitur bekam Vera sogar die Erlaubnis zum Studium in der Stadt Tjumen. Selbstverständlich musste sie sich auch hier als Deutsche regelmäßig bei der Kommandantur sehen lassen. Bestellt war sie am Morgen, sie konnte aber erst nach dem Unterricht hingehen, weil man Vorlesungen nicht schwänzen durfte
Sicher hatte Vera Riffel (damals noch Maier) ein bisschen Angst vor dem allmächtigen Kommandanten wegen der Verspätung. „Wir lassen dich einsperren!“, brummte der unzufriedene Uniformierte hinter dem Schreibtisch. Ehe sie überlegen konnte, schoss die Antwort aus ihr heraus: „Wenn ich hier so früh antreten soll, dann müsst ihr für mich in die Vorlesung gehen!“
„Es waren junge Burschen da in der Kommandantur, und ich war immer schlagfertig“, erklärt Vera Riffel heute. Sie hatte unglaubliches Glück. Sie durfte ihr Studium abschließen.
Irma Meder, Vorsitzende der Ortsgruppe Köln