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15/03/2022Sind Sie für oder gegen Putin?
FRANKFURTER ZEITUNG 6. März 2022 NR.9 SEITE R1
Vier Millionen Menschen aus der früheren Sowjetunion leben in Deutschland. In der Verurteilung der russischen Politik sind sie sich weitgehend einig, sagt der Kasseler Johann Thießen, Vorsitzender der Landsmannschaft im Bund und in Hessen.
Herr Thießen, Krieg gegen die Ukraine, Hass gegen den Westen und die NATO, Drohung mit Atomwaffen – hätten Sie das Wladimir Putin vor zwei Wochen zugetraut?
Die Situation hat sich zwar über einen langen Zeitraum immer weiter zugespitzt, aber mit solch einem Horrorszenario hat wohl kaum jemand gerechnet. Selbst die Menschen in Russland sind über diesen Krieg, mitten in Europa, direkt vor unserer Haustür, erschüttert. Vielleicht haben wir in Deutschland und im Westen insgesamt, in unserem Streben nach einem friedlichen Europa, nach einer Stärkung der Demokratie, übersehen oder nicht sehen wollen, wie sich das Unheil angeschlichen hat.
In der Bundesrepublik leben rund vier Millionen Deutsche aus Russland, etwa 260 000 davon allein in Hessen. Sie sind der Bundesvorsitzende und der hessische Landesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die knapp 30 000 von ihnen repräsentiert. Wie reagieren ihre Mitglieder auf Putins Bruch des Völkerrechts?
Ich kann nicht für alle Russlanddeutschen in Deutschland sprechen. Aber viele derer, die sich in unseren 14 Landesgruppen und den 120 Orts- und Kreisgruppen zusammengeschlossen haben, sind entsetzt über das Vorgehen Putins. Viele haben Freunde und Verwandte in der Ukraine oder haben sogar selbst da gelebt. Ich bin 1991 nach Deutschland gekommen, meine Vorfahren stammen aus der Ukraine und wurden von dort nach Beginn des Zweiten Weltkrieges deportiert. Meine Mutter hat bis zu ihrem Tod von der wunderschönen Ukraine geträumt. Was dort gerade geschieht, ist für uns alle unbegreiflich.
Die Landsmannschaft vertritt Deutsche aus Russland und aus der Ukraine. Gibt es zwischen denen in der Beurteilung Putins Unterschiede?
Ja. Durch manche Familien – der Mann stammt aus Russland, die Frau aus der Ukraine, oder die Frau kommt aus Russland, der Mann stammt aus Deutschland – geht ein Riss. Viele Russlanddeutsche schalten die staatlichen russischen Fernsehsender ein und fallen auf deren Propaganda rein. Die Landsmannschaft versucht da, mit ihren Netzwerken und Informationen gegenzuhalten.
Das heißt, es gibt auch Spannungen unter den Russlanddeutschen?
Die gab es vor allem vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Ich weiß von Ehen, die daran zerbrochen sind. Aber jetzt ist das anders. Der Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine wird von einer ganz großen Mehrheit verurteilt. Das Leid, das russische Soldaten über die Schwächsten – über ältere Menschen, Frauen und Kinder – bringen, ist nicht zu rechtfertigen. Deshalb unterstützen oder organisieren die Landsmannschaft und viele Einzelpersonen auch Spendensammlungen für die Menschen in der Ukraine.
Aber nicht alle denken so?
Viele Russlanddeutsche haben eine falsche Loyalität zu ihrem ehemaligen Heimatland. Manche sind auch in Deutschland noch nicht richtig angekommen. Für die ist Putin Russland. Die schotten sich ab und glauben, dass das, was die russischen Medien berichten, dass die russische Propaganda über die Ukraine die Wahrheit ist. Für diese Menschen ist es dann schwierig, zu antworten, wenn sie in Geschäften mit russischen Produkten von Journalisten angesprochen und gefragt werden: „Sind Sie für oder gegen Putin?“ Weil sie vielleicht nicht für Putin sind, sich aber Russland noch immer sehr verbunden fühlen. Wenn man die allerdings fragen würde „Sind Sie für den Krieg?“, würden 99 Prozent antworten: „Auf keinen Fall.“
Sie sagen, man sollte stärker differenzieren, genauer hinhören?
In dieser aufgeheizten Stimmung ist es wichtig, zwischen Staat und Politik auf der einen Seite und dem Land und den Menschen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Unter den Russlanddeutschen gibt es viele, die das Regime Putins mit einem großen Misstrauen verfolgen, aber es gibt leider auch manche, die Putins Machtstreben gutheißen.
Als sich die deutsch-russischen Beziehungen nach der Besetzung der Krim-Halbinsel 2014 verschlechterten und dann zusätzlich nach Ausbruch der Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016, fühlten sich viele Russlanddeutsche ungerecht behandelt und zu wenig willkommen in der Bundesrepublik. Fürchten Sie, dass die Russlanddeutschen jetzt auch unter der Aggression Putins gegen die Ukraine leiden müssen?
Ja, die Befürchtung habe ich, und es gibt ja auch schon erste Anzeichen dafür. An Geschäften, die russische Produkte verkaufen, hängen Plakate, auf denen steht: „Russen sind hier nicht willkommen.“ Das sind sicher extreme Einzelfälle, aber die werden im russischen Fernsehen ausgestrahlt. Durch solche vereinzelten Vorkommnisse hier und solche Propaganda dort dürfen wir uns nicht verunsichern und nicht auseinanderdividieren lassen.
Sie selbst leben seit 30 Jahren in Deutschland. Können Sie Putins Sehnsucht nach nationaler Größe, nach einem neuen russischen Imperium nachvollziehen?
Nein, ich persönlich kann das nicht. Und jenen, die Verständnis dafür haben, sage ich: Ein Imperium kann nicht durch Angst, Gewalt und Krieg erzwungen werden. Unsere Vorfahren haben in der Sowjetunion als Deutsche durch Repressionen und Deportationen unsäglich leiden müssen. Wir erinnern uns noch gut daran, welche Schäden und Traumata Hass anrichten kann. Wir wissen ganz genau, welche verheerenden Folgen die Gewalterfahrungen noch für die folgenden Generationen haben können.
Hat Putin noch die große Mehrheit seines Volkes hinter sich?
In der Frage des Krieges gegen die Ukraine ganz sicher nicht. Es gehen doch erstaunlich viele Leute in vielen russischen Städten auf die Straße und protestieren, obwohl sie Angst haben müssen, verhaftet zu werden oder ihre Arbeit zu verlieren. Dass so viele Menschen in Russland den Krieg offen kritisieren, gibt mir ein klein wenig Hoffnung. Die meisten der Soldaten, die Putin in den Krieg schickt, sind noch sehr jung – 18 bis 24 Jahre. Wenn immer mehr von denen als Leichen nach Hause zurückgebracht werden, dann wird es im Russland Putins anfangen zu brodeln.
Die Fragen stellte Ralf Euler.