Am 19. Oktober 1918 gründete die sowjetische Regierung für die an der Wolga kompakt lebenden Deutschen ihr eigenes autonomes Gebiet, die wolgadeutsche Arbeitskommune, die 1924 zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen aufgewertet wurde. Mehrere deutsche Siedler kamen der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki entgegen, andere standen deren politischen und wirtschaftlichen Zielen negativ gegenüber. Die Wolgarepublik spielte jedenfalls in der leidvollen Geschichte der russlanddeutschen Volksgruppe eine schicksalsträchtige Rolle.
Am 23. September veranstaltete die hessische Landesgruppe der LmDR e. V. in Zusammenarbeit mit der Deutschen Jugend aus Russland (DJR) und der Landsmannschaft der Wolgadeutschen (LWD) einen Festakt anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung der deutschen Autonomie an der Wolga. Rund 300 Gäste, darunter Vertreter von Vertriebenenverbänden und Landsmannschaften sowie Freunde der Deutschen aus Russland, trafen im Foyer des Hessischen Landtages in Wiesbaden ein.
Albina Nazarenus-Vetter, Stadträtin in Frankfurt am Main und Geschäftsführerin der DJR in Hessen, dankte im Namen aller Veranstalter der Landesregierung dafür, dass „sie sich dem Thema ‚100 Jahre deutsche Autonomie an der Wolga‘ in besonderer Weise widmet“. Sie freue sich sehr, dass so viele Ehrengäste der Einladung gefolgt seien, um der Veranstaltung beiwohnen zu können.
Nazarenus-Vetter brachte zum Ausdruck, dass sie gar nicht deutlich genug betonen könne, welch große Bedeutung die Autonomie und die aus ihr hervorgegangene Wolgarepublik für die Deutschen aus Russland habe. Sie unterstrich: „Die Erinnerung daran hat für das Geschichtsbewusstsein der Deutschen aus Russland eine sehr große Bedeutung. Denn ohne Geschichte, ohne das Wissen um die eigene Herkunft und seine Wurzeln, steht der Mensch ziemlich verloren da.“
Und da es ohne Geschichte keine Zukunft gebe, sei es die Aufgabe unserer Generation, die überlieferte Kultur und Geschichte den Jüngeren zu vermitteln, um somit wiederum die Zukunft zu sichern. Das historische, kulturelle und ideelle Erbe der Deutschen aus Russland sei ebenso ein gesamtdeutsches Erbe. Dass dies auch der Hessischen Landesregierung bewusst sei, werde sehr deutlich durch die Veranstaltung an diesem Tag.
Johann Thießen, Bundesvorsitzender und hessischer Landesvorsitzender der LmDR, vertrat ebenfalls die Meinung, dass für die Deutschen aus Russland die Gründung der deutschen Autonomie an der Wolga eine „herausragende Bedeutung“ habe. Sie sei prägend für die russlanddeutsche Geschichte, und die Erinnerung an sie sei bis heute Teil der Identität der Volksgruppe.
In seinem Grußwort ging er außerdem ausführlich auf die Geschichte der deutschen Kolonisten vor und nach der Gründung der deutschen Wolgarepublik ein. Die Deutschen in Russland hätten über die Generationen hinweg ihre Sprache, ihr religiöses Bekenntnis und ihre Bräuche bewahrt. Aber bereits während des Ersten Weltkriegs hätte gerade ihre deutsche Kultur Anfeindungen und Diskriminierungen zur Folge gehabt.
Für die deutschen Siedler an der Wolga sei es daher umso bedeutsamer gewesen, dass ihnen am 19. Oktober 1918 eine territoriale Autonomie und der Status einer eigenen Volksgruppe zuerkannt wurde.
Hiermit seien wiederum große Hoffnungen verbunden gewesen, und zunächst schienen sich diese auch zu erfüllen. Die autonome Region an der Wolga sei nicht nur überaus produktiv gewesen, sondern habe sich dann im Jahr 1924 schließlich zur „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, der „Wolgarepublik“, entwickelt.
Nachdem Stalin 1927 alleiniger Machthaber der Sowjetunion geworden sei, sei das Leben für die Deutschen der Wolgarepublik jedoch zunehmend schwieriger geworden. In den Dreißigerjahren sei ihnen der Vorwurf gemacht worden, mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu sympathisieren. Die ursprünglich mit der Wolgarepublik verbundenen Hoffnungen und Erwartungen seien bitter enttäuscht worden.
Das Schlimmste sei den Deutschen in der Sowjetunion jedoch noch bevorgestanden. Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 sei ihnen kollektiv eine Zusammenarbeit mit dem Feind unterstellt worden. Stalin habe mit seinem Dekret vom 28. August 1941 die Auflösung der Wolgarepublik veranlasst.
Weiter sagte der Bundesvorsitzende: „Darauf folgten Verbannung nach Mittelasien, Zwangsarbeit, Verbot der deutschen Sprache und deutschen Kultur, Hunger, Elend, Leid und Verzweiflung. Den Wolgadeutschen wurde auch in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Rückkehr verwehrt. Sie waren Verbannte. Dies änderte sich selbst dann nicht, als Glasnost und Perestroika der Gorbatschow-Ära ihre Lage verbesserte. Eine Rehabilitierung und die Wiederherstellung der autonomen Selbstverwaltung blieben trotz aller Bemühens aus. Auch das hat dazu beigetragen, dass so viele Deutsche nach dem Zerfall der UdSSR den Weg in die Bundesrepublik gewählt haben.“
Der Präsident des Hessischen Landtags, Norbert Kartmann, bezeichnete den Weg der Deutschen aus Russland als „Schicksalsweg von Hunderten von Jahren“. „Überall auf der großen europäischen Landkarte finden wir die Siedlungsgebiete, die eigentlich keine deutschen Gebiete waren. Das sind Schicksalsgebiete der Europäer, das sind Schicksalsgebiete für die Menschen, die auch unter dem Krieg gelitten haben“, stellte der Gastgeber des Hauses fest. Und deswegen müsse man sich bemühen, dass die Geschichte der Spätaussiedler verstärkt in deutsche Bücher kommt.
Mit Stolz berichtete der Festredner der Veranstaltung, der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, darüber, dass Hessen als einziges Bundesland die Geschichte der Deutschen, die Vertreibung erlebt haben, in den Schulunterricht für die Oberstufe eingeführt habe. Hessen sei zudem das einzige Bundesland, das in seinem Parlament einen besonderen Ausschuss für die Angelegenheiten der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler habe.
Und schließlich habe das hessische Parlament im Jahr 2013 entschieden, einen besonderen staatlichen Gedenktag zur Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Deportation einzuführen. „Wir haben das gemacht, damit wir uns erinnern. Damit wir darüber nachdenken. Allein schon die Opfer verdienen es, dass wir sie nicht vergessen. Aber erinnern bedeutet ja auch verstehen. Verstehen, wie es geworden ist, warum es geworden ist, und eine gemeinsame Richtung für die Zukunft zu haben. Dem dient ein solcher Gedenktag, und dem dient der heutige Festakt“, so der Ministerpräsident.
Insgesamt gesehen, seien die Russlanddeutschen eine spannende und relativ heterogene Gruppe, die allerdings oft pauschalisiert werde, sagte der Kulturreferent der Bundesregierung für Russlanddeutsche, Edwin Warkentin, der bei der Veranstaltung zum Thema „Geschichte und Kultur der Wolgadeutschen“ referierte.
„Wir sollten uns vor Augen halten, dass es bereits 30 Jahre vor der Gründung der DDR ein deutschsprachiges Staatswesen gab, das auf der sozialistischen Ideologie aufbaute. In öffentlichen Diskursen wird aber stets missachtet, dass wir hier in Deutschland mit drei Millionen Deutschen aus Russland eine Bevölkerungsgruppe haben, die genauso traumatisiert ist durch die Erfahrung des Totalitarismus im sowjetischen System wie die Bürger in den neuen Bundesländern. Da muss nachgearbeitet werden“, unterstrich der Kulturreferent.
Wann beginnt und wann endet eigentlich die Geschichte der Wolgadeutschen? Warkentin erklärte dazu: „Bei der Konferenz in Juni dieses Jahres in Berlin habe ich eine These in den Raum gestellt und behauptet, dass das 20. Jahrhundert für Russlanddeutsche von einem Ende ‚auf Raten‘ geprägt war. Und 1918 stellte in diesem Prozess eine bemerkenswerte Zäsur dar. Dass das absolute Ende noch nicht erreicht ist, davon zeugen natürlich die Aktivitäten der Wolgadeutschen in Russland. Die evangelischen Gemeinden in Saratow oder Marx, die Jugendorganisation und die Begegnungszentren in Engels und anderen Orten leisten eine sehr aktive Gemeindearbeit.“
Ergänzt wurde der Festakt durch eine Ehrung für eine Persönlichkeit, die sich in besonderer Weise um die Deutschen aus Russland verdient gemacht hat: Johann Thießen und Albina Nazarenus-Vetter überreichten der hessischen Landesbeauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Margarete Ziegler-Raschdorf, die Goldene Ehrenadel der LmDR.
„Sie sind für uns eine unverzichtbare Partnerin, bei der wir allzeit ein offenes Ohr finden und die uns in allen Belangen unterstützt“, äußerte Johann Thießen seine Dankbarkeit. Die Landesbeauftragte würdigte ihrerseits unsere Landsleute mit den Worten: „Die Deutschen aus Russland sind mir in all den Jahren sehr ans Herz gewachsen. Ich fühle mich überaus geehrt und werde die Ehrennadel mit Dankbarkeit und Stolz tragen.“
Musikalisch gestalteten den Festakt Julia Reingardt (Klavier) und Larissa Degner (Geige) sowie die Kindertanzgruppe der Tanzschule „Let’s dance“ unter der Leitung von Viktor Scherf.
Nach dem gemeinsamen Singen der deutschen Nationalhymne hatten die Gäste ausgiebig Gelegenheit, sich bei einem Empfang angeregt zu unterhalten und auszutauschen.