Muss es immer etwas zum Lesen sein?
14/04/2020Broschüre „Deutsche Geschichte in Wolhynien“
04/05/2020Julia Kling: „Wir können nur das weitergeben, was wir selbst auf den Weg mitbekommen.“
Eine Frau mit vielen Facetten: Sie ist Autorin, Jugend- und Heimerzieherin, Studentin der Kulturwissenschaften, Literaturbegeisterte und in diesem Jahr auch Jugendbotschafterin der Organisation Terre de Femmes – Menschenrechte für Frauen e. V.
Julia Kling wurde 1989 in Kasachstan geboren, in einem kleinen Dorf namens Nadeschdenka in der Nähe von Qostanai. Im September 2007 kam sie nach Deutschland, absolvierte als Stipendiatin der Otto-Benecke-Stiftung einen Sprachkurs, machte ihr Abitur, absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr und anschließend eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin. Viele Jahre war sie in einem Kinder- und Jugendheim als Sozialpädagogin tätig und engagierte sich ehrenamtlich für Senioren.
In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte sowie der Geschichte der Deutschen aus Russland allgemein. Zu ihrer Lieblingsbeschäftigung zählt das Lesen von Büchern, und sie hat sich dabei eine ganz bestimmte Aufgabe gesetzt: Julia Kling sucht nach Frauenstimmen und Frauenvorbilder nin der Literatur.
Die Fragen im nachstehenden Interview stellte VadW-Redakteurin Katharina Martin-Virolainen.
VadW: In der Beschreibung auf deinem Instagram-Account steht „Die weibliche Sicht auf die Literatur“. Frauen und Literatur: Wie steht das für dich persönlich im Verhältnis?
Julia Kling: Als ich in Kasachstan zur Schule ging, hatte ich ein starkes feministisches Vorbild in Person meiner Literaturlehrerin, die mich sehr gefördert hat. Sie war alleinstehend, sehr gebildet, und mir gefiel ihre Lebensweise sowie ihre Sicht auf die Literatur.
Bereits in der Schule habe ich festgestellt, dass Literatur den Menschen weiterbringt. Aber mir haben immer die Frauenstimmen in der Literatur gefehlt. Wie so viele Bereiche in unserem Leben schien mir die Literatur ebenfalls ein männerdominierter Bereich zu sein. Bis ich Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa entdeckt habe. Dann hat sich das geändert.
Für meine Mutter war Bildung ein absolutes Ideal. Sie hat mich sehr stark in Richtung Literatur gefördert.
Gab es in deinem Umfeld starke Frauenvorbilder?
Die Frauen in meinem Umfeld waren sehr stark. Sie mussten viele Dinge im Alltag gleichzeitig meistern: Haushalt, Erziehung der Kinder, Feld- und Stallarbeit, viele mussten zusätzlich noch arbeiten gehen.
Ich habe das eher so empfunden: Die Frauen dürfen stark sein, aber im Rahmen der männlichen Dominanz in der Gesellschaft. Eine Karriere und berufliche Verwirklichungen wurden oft verwehrt oder hingen von der Entscheidung des Mannes in der Familie ab. Mir fehlten feministische Vorbilder im Alltag, also habe ich diese Defizite durch die Literatur ausgeglichen.
Änderte sich das nach deiner Ankunft in Deutschland?
Hier habe ich gemerkt, dass man weibliche Vorbilder nicht nur über die Stärke definieren kann, sondern auch über Charaktereigenschaften. In Deutschland stehen andere Möglichkeiten zur Verfügung. Nach meiner Ankunft hatte ich das Gefühl, dass ich hier mehr Freiheiten habe. Dass die Frauen sich hier verwirklichen und entfalten können, wie es ihnen gefällt. Dank der Förderung und Unterstützung meiner Mutter wurde ich zu dem Menschen, der ich heute bin.
Hast du einen Unterschied in der literarischen Bildung gespürt?
In Kasachstan wurde, wie in wohl vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, sehr viel Wert auf literarische Bildung gelegt. Ich liebe die russische Klassik, denn sie ist sehr lebensnah. Wenn wir als Beispiel „Schuld und Sühne“ von Dostojewski nehmen: In diesem Werk nimmt er das menschliche Wesen komplett auseinander und beleuchtet es in allen möglichen Facetten. Die Psyche des Menschen ist stark eingebunden. Oder Jesenin: Worte und Emotionen, direkt aus dem Leben eines Menschen gegriffen. Man spürt diese Nähe und kann das Gelesene in sein eigenes Leben transportieren.
In der deutschen Literatur gibt es ebenfalls große Schriftsteller, sprachlich unübertroffen, wie zum Beispiel Goethe, aber für mich nicht lebensnah. Nicht nah genug an meinem eigenen Leben.
Welche Funktion erfüllt für dich Literatur?
Für mich ist Literatur eine Art Lebenshilfe. In einem Buch wird eine Situation beschrieben, und entweder kannst du dich damit identifizieren, es kann dich weiterbringen, dir weiterhelfen oder eben nicht. Die Handlungen beinhalten immer einen Konflikt. Durch das Beschriebene kann man sich selbst begreifen, neue Ansätze finden, vielleicht sogar sein Leben verändern. Wenn man in einem Buch zum Beispiel Vorbilder findet und von ihnen lernt, wie sie Konflikte meistern. Erst im Studium habe ich explizit begonnen, nach Frauenvorbildern in der Literatur zu suchen.
Welche Literatur steht dir sehr nah?
Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa haben mich sehr geprägt. In erster Linie Marina Zwetajewa. Ihr Lebenswerk ist aus ihrem Leben heraus geschrieben. Durch sie habe ich festgestellt: Es lohnt sich, sein Leben zu verschriftlichen.
Wie steht es mit russlanddeutscher Literatur? Welche Funktion erfüllt sie?
An der russlanddeutschen Literatur haftet ein doppelter Anspruch: Wir sind zwar Deutsche, aber wir können es nicht ausblenden oder leugnen, dass wir aus der ehemaligen Sowjetunion kommen und anders sozialisiert worden sind. Wir haben sozusagen zwei Identitäten.
Wenn man zudem literarisch tätig ist, wird die Herausforderung noch größer: Wie schafft man es, sich literarisch so zu integrieren, dass es für die gesamte deutsche Literaturlandschaft interessant ist? Welche Themen sollten aufgegriffen werden? Wie bleiben wir uns selbst treu?
Wir sollten in unserer Literatur nicht nur über die Vergangenheit sprechen, sondern auch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen abdecken. Erfahrungen unserer Eltern- und Großelterngeneration sind wertvoll, aber wir müssen es irgendwie schaffen, die junge Generation abzuholen. Meine Geschichte stammt von meinen Eltern und Großeltern ab, aber ich selbst habe andere Erfahrungen gemacht. Meine Erfahrung setzt da an, wo ihre aufhört.
Was wünschst du dir als Vertreterin der jungen Generation der Deutschen aus Russland von der Literatur?
Man beschreibt meistens die Erfahrungen, aber nicht die Auswirkungen. Die historische Übersicht gelingt uns gut, aber es fehlt an gnadenloser Ehrlichkeit. Wieso sprechen wir nicht darüber, wie es tatsächlich ist, mit diesen Erfahrungen zu leben? Mit der Unfähigkeit der Eltern und Großeltern, darüber zu sprechen, umzugehen? Wie beziehen wir aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Erfahrungen ein?
Es ist nicht einfach, zwischen Sprachen, Länder und Kulturen aufzuwachsen, mehrere Identitäten zu vereinen, jahrelang in Identitätskrisen zu stecken. Wir müssen offen darüber reden. Nichts beschönigen, gern auch mal Tabus brechen. Wir haben mittlerweile viele junge Autorinnen und Autoren, die sich diesen Themen widmen möchten. Aber ihnen fehlt es manchmal an Quellen und Impulsen, weil die Erfahrungsgeneration darüber schweigt.
Wie kann man diesen Generationenkonflikt lösen?
Indem man miteinander ins Gespräch kommt. Es steht uns nicht zu, unsere Eltern oder Großeltern dafür zu verurteilen, dass sie mit uns so lange nicht über die Vergangenheit gesprochen haben. Aber es ist unsere Verantwortung, dass wir die Geschichte weitertragen.
Wir, die junge Generation, sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der man über alles sprechen kann. Wir können das tatsächlich bewältigen. Die Erfahrungsgeneration muss akzeptieren, dass ihre Erfahrungen auch unsere Erfahrungen sind. Man darf uns nicht unserer eigenen Geschichte berauben. Wir haben das Recht zu wissen, wo wir herkommen, wie sich der Lebensweg unserer Eltern und Großeltern gestaltet hat. Daraus können wir oft ableiten, welche Auswirkungen das auf unser eigenes Leben hatte. Das trägt viel zur eigenen Identitätsbildung bei.
Es bedarf sehr viel Einfühlungsvermögen, aber die Schuldzuweisungen müssen wir ganz beiseitelassen.
Ich wünsche mir, dass die ältere Generation mehr Mut aufbringt, mit uns über ihr Leben zu sprechen. Darüber, was sie bewegt, besorgt und beunruhigt. Viele Dinge bleiben nach wie vor unausgesprochen. Wenn sie nur mehr Vertrauen in uns hätten! Das hat sich zwar in den letzten Jahren etwas gebessert, aber uns rennt die Zeit davon.
Wir können nur das weitergeben, was wir selbst auf den Weg mitbekommen haben. Ich bin überzeugt, dass die Enkelgeneration sehr wohl dazu in der Lage ist, dieses Erbe zu tragen und weiterzugeben.
Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!